Die Gabe des Zuhörens – eine einseitige Tugend?

veröffentlicht 21.08.2025, Ev. Kirchengemeinde Idstein

Ist Ihnen das Folgende auch schon einmal so oder in ähnlicher Art und Weise passiert? Sie wurden eingeladen, vielleicht von einem befreundeten Paar, zum gemeinsamen Plausch bei Kaffee und Kuchen. Sie erlebten womöglich einen interessanten Nachmittag, erfuhren dabei von ihren Gastgebern zahlreiche Details ihrer jüngsten Urlaubsabenteuer; und gute zwei Stunden später begaben Sie sich auf den Weg zurück zu Ihrem Zuhause.

Dort angekommen sanken Sie erschöpft in Ihren Lieblingssessel. In Gedanken reflektierten Sie noch einmal das vorausgegangene Treffen. Dabei fragten Sie sich, warum Sie sich nach diesem Besuch derart ausgelaugt fühlten. Und bald wurde Ihnen klar, dass Sie selber lediglich zehn Minuten am gemeinsamen Gespräch hatten teilnehmen können. Stattdessen waren Ihre Geduld und Konzentration deutlich gefordert, um dem hohen Sprechtempo und den „Endlos-Wortketten“ halbwegs folgen zu können.

An dieser Stelle mögen wir spontan beklagen, dass sich liebe Mitmenschen mitunter völlig selbstvergessen in pausenloser Selbstdarstellung ergehen. Mehr noch, dass ihnen nicht bewusst ist, wenn dabei ihre Zuhörenden zu bloßen Empfängern werden. Zudem könnten wir bedauern, dass der rastlose Zeitgeist dazu drängt, zunehmend mehr Informationen gleichermaßen rastlos weiter übermitteln zu müssen. Aber genügt diese nüchterne, einseitige Betrachtung?

Allein ein Blick auf die isolierte (Gesprächs-)Situation alleinlebender und älterer Menschen lässt erkennen, dass diesen häufig ein Mitmensch fehlt, welcher bereit ist, ihnen einfach nur geduldig zuzuhören. Den meisten Mitmenschen steht oft nur begrenzte Zeit zum höflichen Zuhören zur Verfügung, was zur Folge hat, dass mitunter der Redefluss eines Gesprächspartners unterbrochen werden muss – ein Dilemma unserer Zeit. Wie also kann es bei alldem gelingen, zu mehr innerer Ruhe, zu einer achtsameren Kommunikation zu gelangen?

Wenn Sie sich an Gespräche aus Ihrer jüngsten Vergangenheit erinnern, werden Sie womöglich feststellen, dass Sie manchen Gesprächen besonders gern zugehört haben. Ursache dafür könnte eine gewisse „innere Gesprächsruhe“ der Beteiligten gewesen sein. Diese innere Ruhe wirkt unmittelbar, stets ausgleichend und verbessert so erheblich die Gesprächsatmosphäre. Sie kann erlernt oder immer wieder erneut aktiviert werden. Beispielsweise durch tägliche, stille Einkehr und Meditation. Und auch durch die Teilnahme an Seminaren zur Achtsamkeit, des autogenes Trainings, der Meditation, des Yoga und ähnlichem.

Erinnern wir uns: Die Weisung Jesu: „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst“ (vgl. Mk 12 Vers 31) kann auch als Auftrag verstanden werden, achtsam im sprachlichen Umgang miteinander zu sein. Konkret: Unser Bemühen ist gefragt, Verständnis für die individuelle Lebenssituation unserer Gesprächspartner/innen aufzubringen – Und ebenfalls unsere Bereitschaft, im Verlauf von Gesprächen mittels Geduld und Gelassenheit die richtige Balance zwischen eigenem Sprechen und Zuhören zu finden.

Darum bitten wir Gott gerne um Gelassenheit und Geduld für unsere zukünftigen, zwischenmenschlichen Begegnungen. Bitten wir gleichsam für uns – und unsere Gesprächspartner – um die Gabe, achtsam und verständnisvoll zuhören zu können. Alles in allem wertvolle Voraussetzungen – für jedes gute Gespräch.

Wolfgang Johann Müller